Die vier vom Schrebergarten

Teil I

Langsam lenkte ich meinen Wagen bis zur Wendeplatte die schmale Straße entlang. Häuser und Vorgärten glitzerten in der Morgensonne. Alles wie damals, dachte ich. Oder war es doch anders? Als ich aus dem Wagen stieg, sah ich in den Vorgärten die ersten Tulpen blühen.  Ein kalter Schauer durchlief meinen Körper.

Ich blieb stehen, schaute lange in Richtung des kleinen Wäldchens, dann ging ich festen Schrittes zu dem kaum sichtbaren Weg, der hinter dem Elektrohäuschen der StädtischenWerke lag. Es schien mir als sei der Waldweg, den ich jetzt erreicht hatte viel dichter und schmaler geworden. Mein Atem ging schwer. Ich fror, als die Schrebergarten Anlage in mein Blickfeld rückte.

Warum wollte Willy, dass wir uns gerade hier treffen sollten, schoss es mir durch den Kopf. Ein Blick auf meine Uhr, sagte Beeilung, wenn du nicht zu spät kommen willst. Während ich schnellere Schritte machte, dachte ich, wie doch die Erinnerung vieles schon verblassen hat lassen, und es mir nicht mehr gelang alles in Gedanken richtig einzuordnen. Unweigerlich wurden meine Schritte noch schneller, bis ich plötzlich bemerkte, dass ich rannte. Und dann stand sie vor mir, die aus altem Holz gezimmerte Baracke, mit dem schon etwas verbeulten Wellblechdach, angestrahlt von einem Sonnenstrahl der zwischen den Bäumen sich seinen Weg gesucht hatte.

Der alte Baumstumpf stand noch immer neben der Hütte. Bewachsen mit dicken Flechten hatte er die Zeit seit unserem Weggang, unbeschadet überstanden. Ich freute mich dieses Relikt einer alten Epoche wieder zu sehen. Jetzt hieß es warten, bis Willy, Hans und Ludwig kommen. Gedanken schwirrten mir durch Kopf und ließen das Gefühl von wehrlosen Überbleibseln einer alten Geschichte in mir Auftauchen. Seit unserer Trennung war es das erste Mal, dass wir uns wieder trafen. Die Laube in den Schrebergärten, in der wir so lange eine gemeinsame und wichtige Lebenszeit verbracht hatten, stand noch immer.  Während ich den Garten durchschritt, empfand ich ein eigenartiges Gefühl.  Der Gedanken, welche Bereicherung diese vergangene Lebenszeit für mich war, beschäftigte mich ziemlich stark.  

2

Ich, Ferdinand der Obdachlose, ging es mir durch den Kopf. Na na, mein Lieber. Du bist Ferdinand! Nicht mehr der Obdachlose, sagte eine innere Stimme, das warst du einmal in einer anderen Zeit. Jetzt bist du Ferdinand und nur Ferdinand. Ja, welcher wohl? Der, genau der du jetzt bist, sagte wieder die innere Stimme. Lass es einfach so. Es ist wie es ist und gut so. Na gut, dachte ich. Und doch wanderten meine Gedanken zurück, in die Zeit, in der ich mich als ein gescheitertes Wesen sah.

Der Beginn meines Scheiterns, wie ich die Zeit vor meiner Bruchlang bezeichne, lag schon länger zurück, bevor ich durch einen glücklichen Umstand in der Laube landete. Ich hatte mein Studium an einer renommierten Universität absolviert. Die Studiengänge machten mir sehr viel Freude und ich beschäftigte mich während der Hochschulzeit noch zusätzlich mit Sprachen, die mir einen völlig neuen Blick auf Dinge und andere Kulturen eröffneten. Auch widmete ich mich während des gesamten Studiums mehr der Literatur als es üblich war. Mein Berufswunsch und der Weg dorthin, war für mich klar. Doch mein Professor war völlig anderer Meinung und hielt mich nicht befähigt, nach meinem Studium der Psychologie, Soziologie und Philosophie, dass ich mich der Wissenschaftlichen Arbeit verschreiben wollte. So nahm ich eine Referendarstelle an einer großen Zeitung an und versuchte mein Bestes zu geben. Doch immer wieder bekam ich zu spüren, so wie ich meine Aufgaben wahrnahm, so wie mein Umfeld es von mir erwartete, dem nicht gerecht zu werden. Trotzdem gelang es mich in meiner Arbeit befriedigende Ziele setzen zu können. Noch während ich meine erste Stelle innehatte, heiratete ich. Bis unsere Kinder geboren wurden arbeitete meine Frau mit. Der Alltag ließ mir für meine Doktorarbeit wenig Raum und doch gelang es, sie eines Tages zu Ende zu bringen. Bald fand ich auch im Schreiben eine neue Bestätigung. Meine ersten Bücher kamen auf den Markt und ich konnte meine Familie gut versorgt wissen.

Der Wechsel mit meiner Frau und den Kindern in eine andere Stadt, und die damit verbundene Herausforderung, an der neuen Arbeitsstelle Fuß zu fassen, brachte mir nicht die erhoffte Befriedigung. Mehr und mehr zog ich mich in meine eigene Welt, in die Welt der Gedanken, der Sprachen und einem selbstauferlegten Studium der Literatur zurück.  Ich begann nebenbei mich wieder mehr auf das Schreiben zu konzentrieren und konnte bald ein weiteres Buch herausbringen.

Umstände des Alltags, immer mehr Probleme im Zusammenleben mit meiner Frau und den Kindern, belasteten unseren Alltag. Ich lebte fast nur noch in meiner eigenen Welt, der Welt der Bücher und der Gedanken. Nach und nach wurde ich zum Einzelgänger, nicht nur im Umfeld, sondern auch innerhalb meiner Familie. Dann erkrankte ich schwer.  Dies war der Auslöser, dass ich meine Arbeitsstelle verlor und damit endgültig den Boden unter meinen Füßen.  Da ich inzwischen in einer gut bezahlten Stelle für Entwicklungsarbeit einer Unternehmensberatung arbeitete, wurde ich zunächst beurlaubt.   Die Krankheit schritt fort und nahm mir jede Möglichkeit noch irgend etwas zu tun. Auch das Schreiben war somit nicht mehr möglich. Ich und mein Körper hatten endgültig kapitulierte.

Als ich nicht mehr den üblichen Status hatte, waren plötzlich Freunde und Berufskollegen weg. Die Familie wandte sich nach und nach von mir ab.  Meine Frau litt unter der Situation, doch ich bemerkte es nicht. Eines Tages verließ sie mich mit den Kindern, kurz nachdem ich von einem weiteren Klinikaufenthalt zurückgekommen war.  Weitere Therapien und Sanatorien schlossen sich an und mit ihnen noch mehr neue Probleme. Bei der Rückkehr nach einem wiederholten Aufenthalt in einer der Psychiatrischen Abteilungen einer renommierten Klinik, stand ich ohne Unterkunft und auch ohne Unterhalt auf der Straße. Meine Frau hatte inzwischen das Haus verkauft. Mir gehörten nur noch ein paar persönliche Dinge, die sie bei meiner Schwester abgestellt hatte. Dort konnte ich auch einige Tage unterkommen. Danach ging es steil bergab.

3

Der Abstieg der inzwischen bereits innerlich begonnen hatte, vollzog sich jetzt auch äußerlich. Mein einziger Lebensinhalt waren mittlerweile der Alkohol, Medikamente und gelegentlich ein paar Zigaretten, die ich am Kiosk von einem alten Kumpel bekam, dem ich wohl Leid tat. Schnell landete ich endgültig auf der Straße, ohne jede Perspektive und ohne noch daran zu denken dieses jetzige Leben je wieder zu verlassen und in geordneten Bahnen zu bringen.

Meinen Unterschlupf in den langen oft kühlen Nächten verbrachte ich unter der alten Brücke am Fluss. Dort war ich wenigstens nicht allein. Ein alter Mann und ein paar aus der Gesellschaft gefallene Frauen suchten ebenfalls an den maroden Pfeilern Schutz. Tagsüber vertrieb ich mir die Zeit am Güterbahnhof hinter den alten stillgelegten Gleisen. Es war ruhig und nur der ein und andere Hundebesitzer kam vorbei. Die Hunde kannten mich schon und bellten nicht mehr, wenn sie mich an der Hecke liegen oder sitzen sahen. Zwischendurch bekam ich eine Kleinigkeit zum Essen, von einer älteren Dame, die dort täglich mit ihrem Hund die Runden drehte. Vorsichtig, zusätzlich noch in eine Zeitung eingewickelt, legte sie mir alle paar Tage etwas hin. Danach verschwand sie schnell mit „Rando“ wie sie den Hund nannte. Wir sprachen nie ein Wort miteinander. Nur unsere Blicke trafen sich gelegentlich. Die Zeitung tat mir zusätzliche gute Dienste. Anfänglich zündete ich, wenn es mir zu kalt wurde, damit ein kleines Feuer an, oder wickelte daraus eine Art Rauchutensil, um mit ein paar Zügen meine Sucht zu befriedigen, wenn ich keine Zigaretten mehr hatte. Das Risiko damit erwischt zu werden, konnte ich nur eingehen, wenn hinter dem Güterbahnhof niemand mehr zu sehen war. Eines Tages an einem feuchten und nebligen Tag brachte ich das Streichholz nicht zum Brennen.  Wütend wollte ich schon los und die Zeitung in einen am Pfeiler hängenden Papierkorb werfen, als mein Blick auf eine Anzeige fiel. Mir bleib fast das Herz stehen. Ich musste mehrere Male hinsehen.  Plötzlich war mir schrecklich übel. Was ich da las, nahm mir ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen. Als ich mich einigermaßen wieder im Griff hatte, las ich erneut die Anzeige. Meine Frau hatte mit dem Verkauf des Hauses auch die Scheidung erwirkt. Doch hier stand es schwarz auf weiss, es war nicht zu übersehen, meine Frau hatte wieder geheiratet. Ausgerechnet meinen besten Freund und Studienkollegen, der als ich erkrankte, sehr schnell mir die Freundschaft aufgekündigt hatte. Wie ich damals noch hörte, übernahm er auch gleich nach meiner Entlassung meine Arbeitsstelle.

Nach dieser Nachricht irrte ich die halbe Nacht durch die Stadt. Trotz großer Müdigkeit konnte ich nicht schlafen. Ich war viel zu aufgewühlt. Stundenlang irrte ich umher, bis ich mich erschöpft auf eine Bank im Stadtpark setzte. Ich wollt nur kurz ausruhen. Es war schon hell, als mich ein Polizist unsanft weckte. Er wollte auch gleich meine Papiere sehen. Danach forderte er mich auf, umgehend hier zu verschwinden, wie er sagte. Noch etwas benommen ging ich zurück an meinen Stammplatz hinter den Güterbahnhof.

Von nun an war ich immer sehr angespannt wenn die Alte Dame kam, ob sie mir auch diesmal alles in eine ihrer Zeitungen eingewickelt hatte. Die zierliche etwas scheue Person, hatte eine besondere Ausstrahlung, die mich faszinierte. Aber wie sollte wohl ein Obdachloser sich mit solchen Gedanken befassen, einer der aus der Gesellschaft gefallen war.  Einer der zu nichts mehr Nütze, von Almosen lebt, auf der Straße herumlungert und sich von Damen die Hunde spazieren führen etwas zu essen geben lässt. Ich konnte das nicht einordnen. Um irgend einen klaren Gedanken fassen zu können, oder gar eine Entscheidung zu treffen, dazu lebte ich eingewickelt in einem Schleier den ich mir selbst errichtet hatte.

4

Während ich noch so meinen Gedanken nachhing, sah ich wie sich aus dem Wäldchen eine Gestalt auf mich zubewegte. In schnellem Schritt kam sie heran und schwenkte von weitem schon ein Kleidungsstück. Es war Hans der mich erkannt hatte und mit seiner Jacke mir andeuten wollte, er freue sich mich zu sehen. Wie in alten Zeiten fielen wir uns in die Arme, drückten uns und Tränen standen in unseren Augen. „Siehst du aber gut aus“ sagte Hans „Du aber auch,“ kam es mir über die Lippen. Ohne Worte setzten wir uns auf den Baumstumpf, hielten wie kleine Kinder für einige Zeit uns an den Händen, unfähig zu sprechen. Gelegentlich schauten wir uns an, als wenn einer zum anderen sagen wollte: “Bist du es wirklich?“ Dann versank jeder wieder in seine eigenen Gedankenwelt.

                                                      *

Wenn ich nicht gerade hinter dem Güterbahnhof herumlungerte, ging ich mit einem alten Plastiksack über den Bahnhofsplatz, oder durch den Stadtpark, sammelte leere Dosen und Flaschen und brachte sie in ein nahegelegenes Einkaufszentrum. Mit dem Geld das ich für das Zurückbringen der Dosen und Flaschen bekam, kaufte ich mir dann das was ich zum täglichen Leben brauchte. 

Eines Tages auf dem Weg zur Obdachlosenkantine wie sie in unseren Kreisen genannt wurde, begegneten mir zwei Männer. Sie waren wie ich auf dem Weg“ um sich die tägliche warme Mahlzeit einer örtlich caritativen Einrichtung abzuholen. Wir waren uns dort schon einige Male begegnet. Doch kam es nie zu einem Gespräch. Wieder einmal warteten wir am Eingang auf unsere Tagesration.  Ein zwangloses und doch etwas stockendes Gespräch, über Essen und Schlafplätze entwickelte sich zwischen uns. Unser Lebensinhalt gab nichts weiter her, um sich groß über irgend etwas anderes zu unterhalten. 

„Wohl wieder einmal nicht fertig geworden unser Koch; wir sollten ihm mal ein wenig behilflich sein:“ sagte Hans, so stellte er sich mir vor. Er war immer ein wenig zu Späßen aufgelegt. Der andere der Beiden war Ludwig. Er meinte nur ein wenig lakonisch: “ du hast doch genug Zeit, um zu warten.“  Umliegende Geschäfte lieferten täglich die noch verwertbaren Nahrungsmittel für die Obdachlosen Küche. Manchmal gab es einen Engpass. Dann musste die Küche schnell improvisieren. Das dauerte dann meist ein wenig länger, bis die zur Verfügung stehenden Lebensmittel, verarbeitet waren. 

Hans und Ludwig kamen aus der vor der Stadt gelegenen Schrebergartensiedlung, in der sie zusammen untergekommen waren. Von beiden hatte ich schon gehört. Doch wer sie wirklich waren, wusste ich bis dahin nicht. Man munkelte sie hätten einen Job in der Gartensiedlung und dort ein schnuckeliges Häuschen wie am Nebentisch eine „ Plaudertasche“ hinter vorgehaltener Hand erzählte. Keiner wusste näheres darüber, aber geredet wurde doch. Schnuckeliges Häuschen war Schlichtweg geprahlt. Doch keiner der darüber redete, kannte die wirkliche Situation. Es war eine aus altem Holz zusammen gezimmerte Hütte, die mit Papp- und Wellblechplatten auf dem Dach  notdürftig, Kälte Regen und Wind abhielt. Meist regnete es durch das Dach hindurch, wenn der Wind ungünstig stand. Ursprünglich war die Hütte als Müll-und Geräteabstellplatz vorgesehen gewesen. Eines Tages beschloss der Siedlungsrat durch die Vorgaben der Stadt, eine Verlegung der Hütte und einen gleichzeitig damit verbundenen, Neubau zu machen. Von da an wurden die Mülleimer an die angrenzende Straße hinter der Eingangshecke der Schrebergärten deponiert. Die Geräte erhielten im Seitenbereich des neuen Vereinsheims ihren Platz. Somit waren sie für alle besser zugängig, und die alte Bruchbude ohne Verwendung.

Ludwig war der Erste, dem die Hütte am hinteren Ende zum Wald hin, auffiel. Tagelang verbrachte er in der Nähe seine Zeit. Dabei kam er mit einem alten Mann, der dort eine Parzelle bewirtschaftete ins Gespräch. Nach einiger Zeit, die Nächte fingen schon an, kälter zu werden, fragte Ludwig den Alten ob er den Winter über in der Hütte bleiben könne. Doch dies musste zuerst dem Vorstand der Gartensiedlung vorgebracht werden. Nach einigem Hin und her gaben die älteren Herrschaften ihre Zustimmung , allerdings mit der Maßgabe, dass ihnen bei der teilweise beschwerlichen Gartenarbeit von Ludwig Unterstützung zugesagt wird. Ludwigs handwerklichem Geschick unter der Mithilfe einiger Gartenbesitzer gelang es, die Hütte einigermaßen winterfest herzurichten. 

   5                                                   *

Rein äußerlich betrachtet wirkten Ludwig und Hans auf den ersten Blick wie Brüder, wenn sie so nebeneinander standen. Doch die beiden waren grundverschieden, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten.  Ludwig, großgewachsen, schlank, mit dichtem, dunklem Haarwuchs, den er meist unter einer Mütze versteckte. Wind und Wetter in denen er, in den vergangenen Jahren auf der Straße lebte, hatten seine Haut stark gegerbt. Trotz der lederartigen Haut, sah man seine feinen Gesichtszüge, wenn er sich unbeobachtet fühlte.  Sein Gang war leicht federnd und wenn man ihm nachschaute, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wüsste er bereits genau, wohin er jetzt gerade gehen wollte. Sein Wesen hatte eine Art von Entschlossenheit, der man sich nicht entziehen konnte. Obwohl seine Kleidung schon ziemlich schäbig geworden war, glaubte man er würde sie ständig reinigen und aufbügeln. Alles in allem strahlte er etwas aus, was einen an eine Respektsperson erinnerte, die jeden Augenblick ihr Umfeld mit wenigen Worten mitreißen konnte.

Hans hingegen still, um nicht zu sagen fast scheu, Körperlich unwesentlich kleiner als Ludwig,  jedoch eher von einer etwas kräftigeren Statur. Sicherlich hatte Hans früher körperlich schwer gearbeitet oder vielleicht auch Sport getrieben. Doch aus seinem früheren Leben erzählt er nie etwas, ebenso wie wir anderen auch nicht.  Seinem äußeren Erscheinungsbild nach zu urteilen, bereitete ihm das Thema Kleidung ziemlich viel Mühe. Alles wirkte zu weit, zu groß und leicht schlampig. Es störte ihn auch nicht seine zu langen Hosenbeine einfach umzuschlagen oder in die Stiefel zu stecken, auch wenn sie verschmutz waren. Die blonden Haare inzwischen schon mächtig ausgedünnt, hatten lange keine Schere mehr gesehen. Mit der körperlichen Reinigung stand es auch nicht gerade zum Besten. Oft hatte er tagelang in den wenigen Haaren, die sein Kinn umspielten, noch angetrocknete Reste von einer Mahlzeit hängen.

An den Händen trug er zu allen Jahreszeiten gestrickte Handschuhe, aus denen nur die dunklen Ränder der Fingernägel hervorschauten.  Die Schuhe waren aufgequollen durch die Nässe. Er liebte es lange Gänge durch den nahegelegenen Wald zu unternehmen, wenn er wieder einmal alleine sein wollte. Das wichtigste jedoch war sein schäbiger abgegriffener dunkelroter Rucksack, den er nur in der Gartenlaube ablegte. Sonst trug er ihn immer auf dem Rücken und hütete ihn wie einen kostbaren Schatz.

Wenige Wochen nachdem Ludwig sich in der Hütte einen Winterplatz eingerichtet hatte, traf er auf Hans. Beide waren sich auf Anhieb sympathisch. Ludwig legte in seiner Gartensiedlung ein gutes Wort für Hans ein. Und so ergab es sich, dass er ebenfalls den Winter über dort unterkommen konnte.

Die Zeit verging und beide halfen nach besten Kräften in den Gärten und hatten sogar Freude daran.  Sie wurden gebraucht und das gab beiden ein Gefühl von Anerkennung ihrer Person. Gelegentlich wurden sie von den Gartenbesitzern zu einer Tasse Café einem Stück Kuchen oder einer Brotzeit eingeladen. 

Manchmal brachten die Leute den Beiden eine Decke, oder Strümpfe einen dicken Pullover und andere Kleidungsstücke, die sie selbst nicht mehr brauchten.  Mittlerweile konnten es sich die Leute nicht mehr vorstellen, ohne ihre Helfer in der Siedlung ihren Arbeiten nachzukommen.  So kam es, dass Hans und Ludwig immer gut zu tun hatten. An manchen Tagen wären gut und gerne noch weitere helfende Hände von nutzen gewesen. Ludwig und Hans bekamen inzwischen ein kleines Taschengeld für die Hilfe.  Ganz entgegen ihres früheren Lebens fühlten sie sich so wie es jetzt war, offensichtlich wohl. So reifte eines Tages der Gedanke in ihnen, trotz der Enge in ihrer Behausung sich nach einem dritten Mann umzuschauen. Nur mussten auch die Gartenbesitzer noch zustimmen.

 6

Als bekannt wurde, dass Hans und Ludwig noch einen Mitbewohner suchen würden konnten sie sich vor Anfragen kaum retten. Doch die Beiden hatten das Privileg sich ihren Mitbewohner aussuchen zu können. Sie waren schon lange bei der Obdachlosengruppe in der Kantine, kannten sich gut aus, wer zu ihnen passen würde und wen sie in die Hütte mitnehmen konnten und auf wen sie sich nicht einlassen durften.  Sie wollten einen Menschen in ihrer Behausung  Unterschlupf gewähren, dem sie vertrauen konnten.  Er sollte ebenso wie sie, wenn nötig in den Gärten, den Alleinstehenden und älteren Personen bei der Gartenarbeit behilflich sein.

Weiter musste auf die Siedlungshäuschen aufgepasst werden, dass nicht fremdes Gesindel sich in die Gartenhäuser einschleichen es sich dort gemütlich machen und vielleicht die Leute bestehlen würde, oder gar durch Vandalismus viel zerstört werden könnte. Dafür gab es von der Verwaltung der Gartenanlage einen kleinen Obolus, den man gut und gerne gebrauchen konnte. 

                                             *

Während wir unsere Mahlzeit  einnahmen, fasste ich mir ein Herz und fragte Ludwig ob ich nicht den Winter über bei ihnen unterkommen könnte. Ich erklärte den beiden ich hätte gehört sie würden einen Mitbewohner suchen. Vielleicht wollten sie es mit mir probieren. Wenn ich nicht ihrem Zuhause gerecht werde ginge ich wieder. Nach langem Schweigen, wo sich die Beiden über Augenkontakt unterhielten, stimmten sie zu.  Eine etwas eigenartige Variante der Unterhaltung, die mir im Laufe unseres Zusammenseins manchmal Rätsel aufgab und manchmal wundersame Einblicke in zwischenmenschliche Kontakte eröffnete. Hans und Ludwig waren sich einig mich in ihre Behausung einziehen zu lassen und so schnappte ich mein Bündel und folgte den beiden in die Schrebergartensiedlung. 

7 *

„Wo die beiden wohl bleiben“ hörte ich plötzlich Hans sagen, der mich damit aus meinen Gedanken riss. Ich wusste es auch nicht. Vielleicht waren sie in den Stau gekommen. Sie wollten ja zusammen in Ludwigs Auto hierherfahren. Sie lebten inzwischen beide in der gleichen Stadt, ungefähr 30 km von unserer Schrebergarten Behausung entfernt. Bevor es zu unserem gemeinsamen Treffen in der Gartensiedlung  kam, hatten sie sich schon einige Male getroffen um die Einzelheiten zu besprechen und alles zu arrangieren. Willij hatte wohl den Plan gehabt, dass wir uns alle einmal wieder sehen sollten, so wie wir uns das gegenseitig versprochen hatten, als wir die Schrebergarten Siedlung verlassen hatten. Aber er konnte nicht damit rechnen, dass Ludwig wieder einmal die Initiative ergriff, begeistert von der Idee und gleich begann, das Treffen vorzubereiten. Ludwig wäre nicht Ludwig, der Pläne immer in die Tat umsetzte. Er war auch mit Sicherheit der von uns Vieren, der nicht nur viele Ideen hatte und mit seiner Hartnäckigkeit meistens uns so lange konfrontierte, bis wir den Widerstand aufgaben und sie dann verwirklicht wurden. Auch fand er wenn Probleme auftauchten immer einen Ausweg. Er war auch der in unserem Team, der als Erster uns mit dem Gedanken vertraut machte, ja soweit ging, dass er uns nervte, den Versuch zu wagen, aus dem Obdachlosenleben auszusteigen und wieder in geordneten Bahnen in ein neues anderes Leben zurückzukehren.

Willij und Ludwig überlegten und feilten bis sie endlich für unser Treffen alles vorbereitet hatten. Das Treffen zu arrangieren dafür hatte sich Ludwig mächtig ins Zeug gelegt. Er hatte alles bis ins Kleinste vorbereitet und dann kam eines Tages der Brief mit der Einladung von Willij. Ich musste mehrmals die Zeilen lesen bis ich begriff, was er geschrieben hatte.

Wir die “ VIER AUFERSTANDENEN“ wollen unser neues Leben feiern, an dem Ort wo wir lange Zeit, unsere tiefste Lebenskrise miteinander erlebt und besiegt haben. Wir treffen uns am ……..

Weiter konnte ich nicht mehr lesen, denn die Augen waren feucht geworden und der ein und andere Tropfen fiel auf die Einladung.

Und jetzt war es soweit und wir waren aufgeregt wie früher am ersten Schultag. Gerade waren wir am Überlegen wo die beiden denn bleiben, als mich Hans in die Seite stieß und mit dem Finger in die Richtung des kleinen Wäldchens zeigte. Ehe ich verstand was er wohl gemeint hatte, rannte Hans los, mit den Worten „komm schon“ und stolperte auf Ludwig und Willij zu, die sich uns näherten. Mit einer festen und langen Umarmung begrüßten wir uns schauten uns immer wieder an und jeder von uns hatte glasige Augen. Wie lange wir so dastanden uns immer wieder in die Arme nahmen weiß ich heute nicht mehr. Was mir am meisten von unserer ersten Begegnung in Erinnerung geblieben ist, war die tiefe innere Verbindung und ein spürbares Vertrauen  zueinander. Aber auch um das Wissen, keiner von uns hätte seinen Weg alleine geschafft. Die Zeit in der wir unser Leben teilten, nach dem Absturz eines Jeden von uns, ließ uns zu einem eingeschworenen Team werden. Man konnte sich auf den Anderen verlassen. Das allein gab die Kraft und den Mut wieder zurück in ein normales Leben zu finden. Ohne die gegenseitige Hilfe, wären wir nicht da, wo wir heute angekommen sind.

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