Teil II
Im ersten Winter nachdem ich bei Hans und Ludwig eingezogen war kam eines Tages in unsere notdürftig zusammengezimmerte Bretterbehausung in der Schrebergarten Siedlung ein Mann.
Er stellte sich uns Dreien als Willij vor und fragte ob er denn einige Tage bei uns unterkommen könne um der kalten Nacht zu entfliehen. Wir stimmten zu und er ließ sich in einer freien Ecke nieder, breitete seinen mitgebrachten Schlafsack aus, legte sich darauf und drehte sich zur Wand. Keiner von uns traute sich ein Gespräch anzufangen. Am anderen Morgen, wickelte er fein säuberlich seinen Schlafsack wieder zusammen, legte ihn in der Ecke ab, zog seine Schuhe an und verschwand.
Man muss wissen, dass unsere Gartenhütte nicht gerade groß war und eine weitere Person den Freiraum ungemein einschränkte. Wir hatten Hocker die aus Paletten zusammengenagelt waren, einen Tisch aus einer alten halbverrotteten Weinkiste der voll belagert war mit alten Tüten in die wir einmal Brot und Fleischstücke eingewickelt hatten die aus der Obdachlosen Küche stammten oder ein Geschenk von irgend welchen netten Menschen denen wir Leid taten. Ein paar alte aus Plastik bestehenden Kaffeebecher, die schmutzig und schmuddelig herum kullerten aus denen wir Wein trinken konnten wenn man uns mal wieder eine halbe Flasche geschenkt hatte, oder sie wenn wir das Bedürfnis hatten unsere Zähne zu putzen sie auch als Zahnbecher benutzten. Vereinzelt fanden sich auch leere Flaschen zwischen einem alten Handtuch ein paar Schuhen die für den Winter abgestellt wurden.In der Ecke lagen unsere Schlafsäcke und eine alte Decke die uns eine Dame vom Schrebergarten Vorstand für das Umgraben ihrer kleinen Parzelle als Zahlung gegeben hatte.
In dieser beengte Dreiergemeinschaft hatten wir nun Willi aufgenommen. Wir mussten etwas mehr zusammenrücken. Neben jedem Schlafplatz lag ein kleines Bündel mit Kleidungsstücken, die wir im Augenblick nicht brauchten. Die Jahreszeit und das Wetter meinte es gut mit uns und so konnten wir die Sachen in unserer Behausung zurücklassen, wenn wir den Schrebergarten verließen. Die wenigen Habseligkeiten trugen wir am Leib und das was übrig war hatten wir von dem Vorstand und seiner Ehefrau als kleines Dankeschön erhalten, weil wir ihnen die Parzelle umgegraben und neu bepflanzt hatten. Ja und jetzt war Willi bei uns und wir mussten beratschlagen, was wir tun sollen. Wegschicken wollten wir ihn auch nicht, er war ja in der selben Lage wie wir, das lies auch schon unserer Obdachlosen Ehre nicht zu. Also beschlossen wir mal einige Tage zu warten um zu sehen wie es als Viererbelegung gehen würde.
Willi brachte erheblich frischen Wind in unsere inzwischen eingefahrenen und eintönige verstaubte Männerwirtschaft. Das sollte sich schon bald zeigen. Er war sehr groß schlank, fast schon hager vor allem wenn er seinen langen grauen Mantel anzog und dazu seinen Hut aufsetzte. Darunter eine dunkle graue Hose, die sehr teuer gewesen sein musste und was mich dabei verwunderte sie sah sehr gepflegt aus. Dazu die braunen echten Lederschuhe ein dezent blau gestreiftes Hemd darüber eine handgestrickte edle dunkelblauen Jacke. Es fehlte nur noch eine Krawatte und der Herr aus dem Business war geboren. Neben uns war er der am besten gekleidete Aussteiger, den ich je gesehen hatte. Auf seinem Rücken hatte er einen kleinen Lederrucksack mit ein paar Außentaschen die ein wenig ausgebeult wirkten. Seine Haare waren dunkelbraun und an den Schläfen zeigten sich die ersten grauen Strähnen. Meiner Schätzung nach musste er so plus minus fünfzig Jahre alt sein. Er strahlte etwas sehr Belesenes, kluges und durchaus eine gewisse Vornehmheit aus. Willij war überaus schweigsam mehr noch als Ludwig, um nicht zu sagen gerade zu wortkarg.
Nach ungefähr einer Woche nahm ich mir ein Herz Willij anzusprechen. Wir waren gerade allein in unserem Unterschlupf und ich dachte mir, so könnte ich ein wenig über ihn und seine täglichen Ausgänge erfahren, selbstverständlich auch wie er es sich vorgestellt hatte weiter bei uns zu bleiben. Doch weit gefehlt. Willij erzählte nichts von sich. Das Einzige, was ich aus ihm herausbekam war, dass er heute noch nichts gegessen hatte.
Während der Nacht überlegte ich mir wie das zu ändern wäre. Wenigstens einmal am Tag sollte er etwas zu essen bekommen. In der Obdachlosen Küche war er noch nie gewesen wusste auch nicht, dass es sie gab und wo sie war. Auch nicht, dass er sich dort etwas zu essen abholen konnte. Die Idee reifte in den schlaflosen Morgenstunden. Heute wollte ich ihn zum Mittag mitnehmen in unser „Restaurant für Feinschmecker“ wie Hans immer witzelte, egal was Willij dagegen sagen würde. Mir ging es darum, dass er wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekam.
Nach einigem mühsamen Gesprächsabtausch war er einverstanden, aber nur mit dem von ihm geäußerten Wunsch mit keinem anderen an einen Tisch sitzen zu müssen und auch mit keinem Menschen sprechen zu müssen. Ich versprach es ihm und wir zogen zusammen los. Frau Käthe wie wir die ältere rüstige und etwas burschikos wirkende Dame nannten, die unsere Teller füllte schaute mich ein wenig merkwürdig an als ich sagte „ das ist Willij“ gerade bei uns zu Besuch. Sie nickte nur und füllte seinen Teller ein bisschen voller als es sonst üblich war und reichte ihm den über den Tresen. Dann fixiere sie mich etwas eigenartig und meinte so nebenbei lakonisch, ja, ja, Besuch bei euch im Schrebergarten, das ist schon was schönes und grinste Willi an, der total erschrak. Mich hingegen musterte sie ziemlich streng, während sie die Brille abnahm und mir zu verstehen gab, es würde ihr immer so schwindlig werden, wenn sie angeschwindelt werde. Damit entließ sie uns beide um nicht zuvor Willi noch ein weiteres Stück Brot zuzustecken mit den Worten für heute Abend.
Dieser bedankte sich sehr höflich. Allein aus dieser Geste heraus hätte mir auffallen müssen, dass er aus einer für mich inzwischen völlig fremd gewordene Welt kam. Von diesem Tage an ging Willij immer mit mir zum Mittagessen in die „Obdachlosenmensa“ wie er sie liebevoll getauft hatte. Frau Käthe ihrerseits hatte ihn wohl auch in ihr Herz geschlossen, denn sie hatte immer eine winzige Kleinigkeit für ihn an der Seite und nach und nach sprachen die beiden ein paar Worte, wenn auch nur übers Wetter oder das Essen, aber der Bann war gebrochen.
Bald redeten auch wir vier gelegentlich einige Worte mehr miteinander. Doch es waren einfache belanglose Dinge die wir austauschten. Tief in seinem Innern musste Willij einmal ein fröhlicher Mensch gewesen sein. Durch irgend einen Grunde, der sein Leben so verändert hatte, wie auch bei uns anderen, ist ihm wohl das Lachen vergangen und auch, dass er bei uns gelandet war hatte nichts mehr davon übrig gelassen. Nur gelegentlich blitzte ein wenig der Schalk bei ihm durch. Etwa dann, wenn wir uns zu viert eine halbe Flasche Wein teilten und der letzte Tropfen mit einer lustigen Bemerkung von ihm aus der Flasche fließen sollte.
Willij blieb nun bei uns in der Holzhütte. Mit seinem Einzug zog auch ein wenig mehr Ordnung in unsere Behausung. Nach und nach fühlten sich alle Verantwortlich Hand mit anzulegen. Es war aufgeräumt, keine leeren alten schmutzigen Tüten oder Flaschen lagen mehr herum, wir hatten immer frisches Wasser aus dem Brunnen der Anlage vor der Türe stehen. Der Eimer wurde täglich von einem von uns aufgefüllt und wir konnten uns nun auch immer waschen. Unsere Kleidung lag immer ordentlich neben unserer Schlafstelle und Socken waschen und an die Schnur über dem Dachbalken zum Trocknen aufgehängt war Ehrensache. Der etwas unangenehme Geruch, der nach nicht gewaschenem Geschirr und alter ungewaschener Kleidung , wie eine Wolke leichter Verwahrlosung unsere Hütte eingehüllt hatte, wen man von draußen eintrat war plötzlich nicht mehr zu bemerken.
Willij hatte sich gut bei uns eingelebt und wir waren wie eine eingeschworene Gemeinschaft die sich gegenseitig vertraute. Gelegentlich brachte er ein wenig Obst, Käse und eine halbe Flasche Wein mit, das er wie er sagte von einer lieben Freundin geschenkt bekommen habe. Da wurde der Abend für uns alle zu einem Fest. Die Atmosphäre war locker und wir konnten uns an solchen Abenden über Gott und die Welt unterhalten, über vielerlei Alltagsthemen fachsimpeln, austauschen oder auch manches mal gegenseitig anstacheln wenn wir unterschiedliche Ansichten hatten. Nach und nach erfuhr ich, dass er wohl Frau und Kinder hatte die in einer weiter entfernten großen Stadt lebten. Inzwischen waren wir gute Kumpels geworden um nicht zu sagen Freunde, die sich aufeinander verlassen konnten.
Eines Tages sah ich Willij auf der Straße mit einem Mann reden. Wobei ich nicht wusste wer von den beiden zuerst den anderen angesprochen hatte. Ich versteckte mich hinter einer Hausecke eines großen Gebäudes und beobachtet die beiden. Nach einiger Zeit des Gesprächs gab der Mann Willij etwas in die Hand und verschwand schnellen Schrittes in einer nahe gelegenen Bank. Willij stand einige Zeit wie angewurzelt da. Ich verdrückte mich schnell denn mein Bauch sagte mir es wäre nicht gut, wenn er mich jetzt sehen würde. Von dem Tage an war Willij wie ausgewechselt. Noch stiller als zuvor. Zum Essen erschien er nur noch gelegentlich in unserer Obdachlosenmensa. Käthe schüttelte nur immer den Kopf wenn sie meine dummen Fragen nach Willij beantworten sollte, ob er wenigstens heute hier gewesen wäre.
Willij der immer verschlossener wurde und uns allen nichts mehr außer einen guten Morgen und gute Nachtgruß zukommen ließ, war eines Tages nicht mehr in seiner Schlafecke aufgetaucht. Als er in der zweiten und den folgenden Nächten ebenfalls nicht da war machte ich mir ernsthafte Sorgen. Das ging einige Zeit so. Wieder einmal überlegte ich während einer Nacht die ohne viel Schlaf langsam zu Ende ging wie ich nur erfahren könne was mit Willij geschehen war.
Tags darauf sagte Käthe am Mittag, Willij wäre da gewesen hätte ganz schnell etwas gegessen den Rest aus dem Teller in eine Tüte gepackt und wäre verschwunden. Sie hätte auch nichts fragen können. Doch es sei ihr aufgefallen dass er völlig verändert gewesen wäre auch eine andere Jacke getragen habe und die Haare nach hinten gekämmt wären. Auch seinen Hut hatte er nicht dabei.
Das Spiel wiederholte sich immer im Abstand von wenigen Tagen. Die Zeiten in denen er kam waren sehr unterschiedlich. Willij kam aß, packte einen Teil davon ein und verschwand so schnell, dass keiner ihm zu nahe kommen konnte. Ich trieb mich überall herum wo wir früher zusammen waren, saß Stunden in der Obdachlosenmensa wartete an vielen Ecken der Stadt, doch kein Willij lief mir über den Weg. Manchmal glaubte ich er könnte in seiner Intuition wissen, dass ich ihm suchen würde und deswegen in der Küche nicht auftauchen.
Schon hatte ich aufgegeben als eines Tages bei strömendem Regen Willij an der Ecke zum Güterbahnhof meinem alten Stammplatz über die Straße rannte. Ich musste gleich mehrmals hinschauen. Doch er war es! Tatsächlich war er ein wenig anders gekleidet. Ich schrie ihm nach und lief in die Richtung wo er über die Straße gerannt war. Doch er hörte mich nicht mehr, denn er war bereits in einem alten Haus hinter der Bahnhofstrasse verschwunden. Ich wartete Stunden, aber vergebens. Er kam nicht wieder heraus.
Tags darauf ich machte mich gerade auf, an den Ort zu gehen wo ich gestern Willij gesehen hatte, kam er in unsere Bretterbehausung. Er grüßte und sagte nur er wolle seine paar Kleinigkeiten abholen die er bei uns deponiert hatte. Dann legte er ein Bündel kleiner Scheine auf unseren aus einer Weinkiste bestehenden Tisch verabschiedete sich mit den Worten. „Ich melde mich bald bei Euch, vielen Dank für alles und ich werde wiederkommen.“ Bitte, habt ein wenig Geduld. Alles wird sich für uns zum Guten wenden“. Damit, verlies er mich einen völlig verdutzten Ferdinand der mit offenem Mund dastand und nicht wusste, wie er das Ganze einschätzen sollte.
Während mich noch immer der Gedanke quälte nie zwischen der Begegnung die ich beobachtet hatte, mit Willij und dem Fremden gesprochen zu haben, stand Hans auf stieß mich in die Seite und sagte,“ na du Träumer komm schon, pack mal mit an sonst sind wir nachher alle verhungert. Wir beide gehen jetzt zum Auto und holen die Sachen die Willij und Ludwig mitgebracht haben. Bis wir zurück sind werden die beiden alles für uns so richtig gemütlich herrichten. Sie hatten sich auch mächtig ins Zeug gelegt mit den Getränken und den belegten Schnittchen, dem vielen frischen Obst und sogar Dessert hatten sie mitgebracht die sie im Auto deponiert hatten. Natürlich wie könnte es anderes sein, die Kaffeemaschine durfte nicht fehlen. Wir wussten nur zu gut, wie gerne Ludwig für Kaffee seine Seele veräußern würde. Daran hatte sich nichts geändert. Als wir noch hier in der Schrebergarten Siedlung untergebracht waren, hatte er sich lieber von den Leuten Kaffee geben lassen, bevor er eine Bezahlung annahm. Kaffee war sein Höchstes. Ziemlich außer Atem kamen wir mit den großen Körben, voll vieler Leckereien zurück. Wir staunten nicht schlecht als Ludwig alles auspackte und ringsum uns herum abstellte. Jeder suchte sich einen Platz und dann war es plötzlich sehr still in unserer Behausung.
Nur der Mut untereinander die Konsequenz, mit der wir uns gegenseitig aus der Lethargie zogen, jedem seine Fähigkeiten bewusst gemacht hatten, uns untereinander die unterschiedlichen Stärken aufgezeigt, jedoch auch die Schwächen nicht vorenthalten hatten machte es möglich uns vor dem Untergang zu retten.
Die Erkenntnis, dass die Nöte und Schwächen uns ebenso geformt hatten nicht weiter in die Tiefe stürzen ließen, gegenseitig Mut zuzusprechen abzuwägen was uns bei einem Neuanfang erwarten würde und die Gefahr eines erneuten Absturzes dem Aufgeben klar vor Augen zu führten wir uns klar darüber waren, dass es weder einfach noch ohne Schwierigkeiten in die Wirklichkeit umzusetzen war, wir es trotzdem wagten um dann wie Phönix aus der Asche auferstehen, hatten wir in vielen Gesprächen durchgespielt. Doch all das genügte nicht, die feste Überzeugung dass es gelingen wird waren nicht nur die Triebfeder, sondern auch der Halt das Wagnis anzugehen, und genau das Geheimnis für unser jetziges neues Leben. Jeder hatte seine Geschichte und sein leben. Jeder von uns bekam eine neue Geschichte und auch ein neues Leben. Genau das war uns in diesem Augenblick des sich Wiedersehens so bewusst wie nie zuvor.
Wir hatten uns wiedergetroffen nach dieser Zeit, um uns auszutauschen zu berichten und für die neuen Herausforderungen zu bestärken. Der Glaube über diese tiefe Krise hinweg entstandene Freundschaft wird uns für die Zukunft stärken.