Jeden Morgen, nachdem ich ausgiebig gefrühstückt und die Zeitung gelesen habe, gehe ich in den Aufbewahrungsraum im Seitenflügel des Hauses. Mein Handy lasse ich in der Wohnung liegen. In diesen Minuten soll nichts unser Zwiegespräch stören. “ Guten Morgen, ihr Lieben,“ sage ich zu den dort aufbewahrten Urnen. Ich hoffe ihr seit noch alle vollzählig da“.Sie antworten mir nicht, das bin ich schon gewohnt.
Gestern Abend ist eine neue Urne eingeliefert worden. Es war schon spät; die anderen schliefen schon. Deshalb stelle ich sie jetzt den anderen vor. „das ist Miranda Wagner“, sage ich. Miranda war 72 und bei bester Gesundheit, als der Schlag sie traf und jetzt leistet sie euch für ein paar Tage Gesellschaft.
Miranda, die grüne Urne ist Volker Wagentür. Volker war erst 47. Er hat zu viel getrunken und geraucht, hat er mir erzählt. ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber du weißt ja, Volker, Tote haben keine Geheimnisse mehr. Die graue Urne ist Marianne Müller, 85 Jahre. Marianne Urne ist so grau wie ihr Leben. Sie hat in ihren 85 Jahren nur einen einzigen Mann geliebt. Ganz im Vertrauen: er war ihrer Lieb nicht wert. Nun weine doch nicht, Marianne; das habe ich dir schon zehn Mal gesagt. Aber sie will es einfach nicht hören.
Und jetzt, meine Lieben, werde ich euch etwas vorlesen. Du musst wissen, Miranda, das tue ich jeden Tag. Nein, Volker, heute nicht schon wieder aus der Bildzeitung. Die war erst gestern dran. heute lese ich euch etwas aus der „Süddeutschen Zeitung“ vor. Auch die, die zu Asche geworden sind, haben noch das Recht auf Bildung. Also hört gut zu. Dann könnt ihr noch was lernen“.
Und dann beginne ich zu lesen. Ich habe einen Artikel über die armen Flüchtlinge ausgewählt.
Diese Geschichte wurde bereits 2015 von unserem Freund Bernd Giehl geschrieben. Mit freundlicher Genehmigung dürfen wir diesen Beitrag von ihm veröffentlichen